Wenn Helfer Hilfe brauchen

06.12.2022

Nach dem schweren Unfall in Bieber: Wie die Notfallseelsorge Rettungskräften und Augenzeugen zur Seite steht / Interview mit Pfarrer Till Martin Wisseler

 

Hintergrund: Die Arbeit der Notfallseelsorge

Sie sind da, wenn das Leid, der Schmerz, die Verzweiflung am größten sind, bei schweren Unfällen, bei Notfällen oder Selbstmorden: die Mitarbeiter der Notfallseelsorge Main-Kinzig. Auch bei dem schweren Verkehrsunfall vergangenen Donnerstag im Biebergemünder Ortsteil Bieber waren fünf Notfallseelsorger vor Ort, um den Rettungskräften und Ersthelfern zur Seite zu stehen. Wie sie Betroffenen in diesen Momenten helfen können, darüber hat GNZ-Redakteur David Meister mit Polizei- und Notfallseelsorger Pfarrer Till Martin Wisseler gesprochen.

 

GNZ: Ein schwerer Unfall wie der in Bieber ist auch für erfahrene Rettungskräfte nicht alltäglich. Was kann die Notfallseelsorge konkret in einer solchen Situation tun und wie gehen Sie dabei vor?

 

Pfarrer Wisseler: Nein, das ist definitiv keine alltägliche Situation. Es ist ein großer Unterschied, ob die Rettung der Insassen aus einem Autowrack unter kontrollierten Bedingungen trainiert wird, oder ob es ein realer Einsatz ist, mit Zeitdruck, mit Schwerstverletzten vor Augen, mit um Hilfe Rufenden, mit Gerüchen, vielleicht auch schlechten Sichtverhältnissen. Das kann sehr belastend sein, erst recht, wenn Kinder betroffen sind. Nicht für alle ist alles gleichermaßen belastend. Das ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Mal ist es die Gesamtlage, die belastet; vor allem, wenn sich Parallelen zeigen zu eigenen Lebenssituationen. Wer selbst kleine Kinder hat, der erlebt die Situation wahrscheinlich besonders belastend. Und manchmal sind es – von außen betrachtet – „Kleinigkeiten“, die aber in der Einsatzsituation für die betroffene Einsatzkraft großes Gewicht haben und zu schaffen machen.

 

Wer entscheidet eigentlich, ob die Notfallseelsorge zu einem Einsatz gerufen wird?

 

Unsere Alarmierung wird durch den Einsatzleiter vor Ort beauftragt und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Leitstelle in Gelnhausen bearbeitet. Übrigens: Auch da sitzen tolle Leute, hoch qualifiziert und engagiert – nur sieht man die nicht, weil sie im Hintergrund arbeiten, aber wenn wir die nicht hätten! Zurück zum Thema: Es wird dann eine sogenannte Einsatznachsorge organisiert. Unsere Aufgabe ist es, Zeit mitzubringen und einen Raum bereitzustellen, in dem die Einsatzkräfte „ihre Geschichte“ erzählen können, das, was sie erlebt haben und was ihnen zu schaffen macht. Erzählen hilft, einzuordnen, zu sortieren, loszuwerden. Was genau, werde ich nicht berichten, weil wir unter der Maßgabe der Verschwiegenheit arbeiten. Wichtig ist, dass wir die Einsatzkräfte anschließend über mögliche eigene Reaktionen informieren, psychische und körperliche. Sogenannte Belastungsreaktionen, die auftreten können, aber nicht müssen. Diese sind natürliche Reaktionen auf ein außergewöhnliches Ereignis – und liegen nicht etwa im persönlichen Unvermögen einer Einsatzkraft. Das ist ganz wichtig festzuhalten.

 

Inwieweit macht es einen Unterschied, ob die Notfallseelsorger vor Ort Einsatzkräfte, etwa der Freiwilligen Feuerwehr, betreuen oder Passanten, Zeugen und Nachbarn eines Unfalls?

 

Diejenigen, die sich in der Notfallseelsorge um die Einsatzkräfte kümmern, sollten unbedingt eine „Feldkompetenz“ mitbringen. Also Kenntnisse haben von den spezifischen Abläufen in einem bestimmten Bereich. Damit die Einsatzkräfte sich in der Belastungssituation nicht auch noch erklären müssen, wenn bestimmte Begriffe verwendet oder Abläufe geschildert werden. Das kostet unnötig Energie und Zeit. Ich selbst habe in meinem ersten Beruf einige Jahre im Rettungsdienst gearbeitet, die beiden anderen Mitarbeiter in der besagten Nacht in Bieber kommen aus den Bereichen Rettungsdienst und Feuerwehr. Diese spezifische Feldkompetenz ist für die Betreuung von Ersthelfern oder Zeugen eines Unfalls nicht unbedingt erforderlich.

 

Spüren Sie bei Einsätzen wie dem in Bieber bei den Betroffenen Hemmungen, direkt mit der Notfallseelsorge über das Erlebte zu sprechen?

 

Nein, bisher nicht. Auch wenn die Notfallseelsorge ein kirchliches Angebot ist, spielen kirchliche Bindung oder religiöse Verortung in diesen Gesprächen keine Rolle und sind auch nicht Bedingung für die Teilnahme. Außerdem teilen wir ja zu Beginn des Gesprächs etwas von uns selbst mit und erläutern auch, was wir vorhaben. Das schafft Vertrauen. Es kommt vor, dass bei individuellen Nachgesprächen im Flur, in der Fahrzeughalle, auf dem Hof grundsätzliche Fragen des Lebens und des Glaubens thematisiert werden. Auch dafür nehme ich mir nach Möglichkeit Zeit. Oder wir verabreden uns extra. Traumatische Erfahrungen wie nach einem Unfall können sich teilweise erst Tage nach dem Ereignis Bahn brechen.

 

Bleiben Sie nach solchen Ereignissen mit den Betroffenen in Kontakt und bieten auch über einen längeren Zeitraum Hilfe an?

 

Für solche Fälle hinterlassen wir bei den Einsatzkräften immer unsere Kontaktdaten. Im Fall der Fälle sind wir ansprechbar. Je nach Situation werden Folgegespräche auch schon fest vereinbart. In der Regel schleichen sich Belastungsreaktionen aber wieder aus. Ist das nach einem bestimmten Zeitraum nicht der Fall, kommen selbstverständlich andere ins Spiel, Psychologen zum Beispiel. Bei Ersthelfern oder Zeugen sieht das Verfahren etwas anders aus. In Bieber wurden die betroffenen Ersthelfer und Zeugen von zwei weiteren Notfallseelsorgern betreut. Sie haben danach die Möglichkeit, bei länger andauernden oder neu auftretenden Belastungsreaktionen den Hausarzt oder die Hausärztin anzusprechen, auch Ortspfarrerinnen und Ortspfarrer können geeignete Ansprechpartner sein. Außerdem kann die Unfallkasse Hessen entsprechende Unterstützungsangebote vermitteln. Besonders Unfälle mit kleinen Kindern sind für Einsatzkräfte und Zeugen sehr belastend.

 

Macht es für Ihre Arbeit einen Unterschied, ob bei Unfällen Erwachsene oder Kinder verletzt wurden?

 

Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Wenn meine Aufgabe die Arbeit mit den Einsatzkräften ist, dann liegt der Fokus meiner Aufmerksamkeit auf diesen Erwachsenen. Aber klar, wenn Geschehnisse mit Kindern geschildert werden oder mir zuvor die Einsatzlage erläutert wird, dann berührt mich das schon. Dann besteht die Kunst darin, eine professionelle Distanz aufzubauen, um arbeitsfähig zu sein. Mitfühlen, aber nicht mitleiden, darum geht es. Meine eigene Traurigkeit oder Wut oder Sprachlosigkeit, meine Gedanken dazu finden danach einen Ausdruck im kollegialen Gespräch, im Gebet, auf dem Fahrrad oder in der Supervision. Auch ich brauche ein Gegenüber, dem ich „meine Geschichte“ und meine Fragen erzählen kann.

 

Die Notfallseelsorge Main-Kinzig ist der kirchliche Beitrag zur psychosozialen Notfallversorgung im Main-Kinzig-Kreis. Seit vielen Jahren kooperiert die Evangelische Kirche hier mit dem Landkreis. In der Regel sind vier Personen pro Tag im Bereitschaftsdienst, Pfarrerinnen und Pfarrer und zunehmend auch engagierte Ehrenamtliche. Sie werden ungefähr 160 bis 180 Mal im Jahr alarmiert, etwa zu Angehörigen von Reanimationspatienten oder wenn die Nachricht vom Tod eines Familienmitglieds zu überbringen ist, nach einem Unfall oder einem Suizid. (dan)

 

Quelle: GNZ (erschienen am 06.12.2022)

 

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